Mittwoch, 19. Mai 2010

Nach der Schlacht

Man stelle sich folgendes vor. Eine der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte. Harry (der bärtige Billy Crystal) und Sally (die süße Meg Ryan) sitzen in einem Restaurant in der New Yorker Lower East Side. Sally ist gerade mittendrin, soll heißen, sie spielt dem ungläubigen Harry einen Orgasmus vor, wirft den Kopf zurück, rüttelt an der Tischkante, stöhnt was das Zeug hält. Da kommt der Kellner und räumt das dreckige Geschirr ab. „Cut“, möchte man da als Regisseur brüllen und flucht über die verdorbene Szene. Zum Glück tauchte in der wirklichen Filmszene nie ein übereifriger Kellner auf. Und warum nicht? Weil der Film nicht in Russland gedreht wurde.

Nur hier hat das Restaurantpersonal die eigenartige Angewohnheit, Besteck und Geschirr des Gastes so schnell wie möglich verschwinden zu lassen. Man hat den letzten Bissen noch auf der Gabel, da wird einem schon der Teller unter dem unachtsamen Auge weggezogen. Eben war da noch dieses wunderbare Stillleben, das entsteht, wenn die Schlacht am Buffet vorbei ist, alle sich zufrieden seufzend die Bäuche halten – und im nächsten Moment ist nichts mehr da. Das mag ja gut gemeint sein, gemütlich ist aber was anderes.

Was kann man nicht alles mit liegen gebliebenen Messern, Tassen und Gläsern anstellen? Sie müssen ja nicht gleich als Requisiten beim vorgetäuschten sexuellen Höhepunkt herhalten. Man kann stattdessen im Minutenabstand die letzten Krümel des soeben verspeisten Mahles vom Teller aufklauben und damit den Genuss hinauszögern. Man kann bei einem furchtbaren Date verlegen an der Serviette rumzupfen, beim Geschäftsessen krampfhaft die Gabel umklammern oder mit einem bewusst unbewussten Schlenker des wirbelnden Messer seinem Argument Nachdruck verleihen. Gut, Freiherr von Knigge würde sich bei derlei Ansinnen samt einer Gesamtausgabe seiner Benimmregeln im Grabe umdrehen, aber wie will man sonst seinem Gegenüber klarmachen, dass man durchaus zur Körperverletzung bereit ist, wenn er nicht sofort zugibt, das Orange die Farbe der Saison ist. Und überhaupt: Wie soll man denn der Freundin die Abseitsregel erklären, wenn außer dem Zahnstocherhalter nichts mehr auf dem Tisch steht? Kein Glas, das „jetzt mal der Torwart“ ist, keine Salatschüssel, die als Stürmer taugt. So vieles spricht für ein bisschen mehr Unordnung am Restauranttisch. Die Vereinigung der russischen Restaurantbediensteten möge dies hier lesen – und den Film „Harry und Sally“ schauen.

Montag, 10. Mai 2010

Nach Berlin!

Panzer

Alle Zeichen auf Sturm. Schon seit Tagen schmücken 90 Prozent aller Russen Autoantennen, Handtaschen und Sonnenbrillenbügel mit der schwarz-orangenen St.-Georgs-Schleife. (Georg war son oller Drachentöter.) Ein Teil der Bevölkerung hat nach den Feiern zum 1. Mai noch nicht ausgenüchtert, bereitet sich aber schon auf das nächste Großbesäufnis vor. Den Roten Platz darf seit einer Woche niemand mehr betreten und selbst an der versifften Pommesbude an der Ecke gibt es Siegesrabatt. Dann ist er endlich da: Der Tag des Sieges. 65 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges. Paradox aber wahr. Zuerst haben die Sowjets den Tag des Sieges gar nicht begangen, dann ein bisschen, dann ein bisschen mehr. Die diesjährige Siegesparade über den Roten Platz und dann durch die Stadt schlug alle bisherigen Rekorde.

Los gehts mit dem Aufmarsch auf dem Roten Platz - Angela Merkel geht zwei Schritte hinter dem Bärchen, so wird Präsident Medwedew von denen genannt, die ihn mögen. Merkel guckt ein bisschen verkniffen. Würde ich auch tun, wenn mir das bevor stünde, was ihr bevor steht. Allerlei Lamettahengste wandern herum, brüllen Befehle und ab und zu schreien alle zusammen "Hurra", was sich in etwas wie "Uahhhhhhh" anhört. Der Verteidigungsminister und der oberste Armeeoberst stehen in fahrenden Cabrios und kurven herum. Das soll wohl ein bisschen wie Cäsar aussehen, ist aber irgendwie lächerlich. 1. Weil Cäsar besser aussah, als der dickliche Verteidigungsminister. 2. Weil die Russen offensichtlich keine Luxuskarossen bauen. Sonst würden die beiden nicht in Autos rumstehen, die aussehen, wie aus dem Chicago der 60er Jahre. Dann sagt auch das Bärchen noch einmal Hurra, Angela guckt immer noch verkniffen und die ganze Parade setzt sich in Marsch.

Flug1 Flug2 Flug3

Als erstes kommen die Flugzeuge (Bilder zum Anklicken). Das ist ja noch ganz hübsch anzusehen. Ist doch ganz faszinierend, wenn die Jagdstaffel so dicht über einem hinwegfegt, dass man glaubt, man brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Der Boden vibriert unter den Füßen und die Trommelfelle sind kurz vorm Platzen. Die Flieger schaffen es doch tatsächlich in der Luft die Zahl 65 zu bilden. Respekt!

Dann fahren die Panzer auf. Ich muss dran denken, dass ich morgens an einem Auto vorbei gegangen bin, auf dessen Seitenscheibe stand: "Danke Opa, dass du dein Leben 1941 dem Kampf gegen den Faschismus geopfert hast." Hinten drauf: "Nach Berlin!" Ich hoffe, das ist nicht wörtlich zu nehmen. Die Moskauer jedenfalls sind von dem Aufgebot "ihrer" Militärtechnik begeistert. Klar, wer würde nicht Hurra schreien, wenn eine Atombombe vorbeifährt? Alle brüllen "Sieg", schwenken Fähnchen, als hätten sie vor einer Stunde höchstpersönlich die sowjetische Flagge auf dem Reichstag gehisst. Die jungen Kerle, die da im Panzer sitzen, kennen den "Großen Vaterländischen Krieg" nur vom HörenSagen. Und mag sein, dass ein paar von den Panzern hochmodern sind. Der größte Teil der Fahrzeuge sieht allerdings aus, als ob er eine Generalüberholung dringend nötig hätte. Vor allem die Medizinwagen wirken so, als seien sie 1945 noch höchstselbst durch Berlin geholpert.

Panzer3 Panzer1 Panzer4 Panzer-2

Bleiben noch die Veteranen. Schließlich ist es IHR Tag. Sie humpeln durch die Stadt und haben soviel Orden an der Brust, dass man Angst haben muss, sie fallen vor Altersschwäche und wegen der sommerlichen Hitze gleich vorn über. Gut, ihnen sei vergönnt, dass alle zehn Meter ein Kind oder ein Jugendlicher vorbeikommt, ihnen eine Nelke in die Hand drückt und "Danke" sagt. Das haben sowieso alle Omas und Opas öfter mal verdient. Also, die Veteranen können bleiben, die Atomraketen, die Panzer und das ganze "Uahhhhh" gehören abgeschafft.

Sieg1 Sieg21 Sieg31

Samstag, 1. Mai 2010

Von Äpfeln und Großvätern

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Man nehme eine Stadt wie Istanbul und lasse 45 Jahre lang Stalin, Breschnew und Chruschtschow das Zepter übernehmen. Heraus kommt so etwas wie Almaty, Millionenmetropole und frühere Hauptstadt Kasachstans. Hier gibt es Plattenbauten, bei denen längst keiner mehr versucht, den schönen Schein zu wahren. Einen Basar, auf dem es Obst in allen Farben, krigisisische Filzkunst und die neueste gecrackte Version von Microsoft gibt. Das Essen ist eine prickelnde Mischung aus russischer und asiatischer Küche. Glasnudeln und Blini hinterher - kein Problem. Im Supermarkt stehen allerlei Merkwürdigkeiten im Kühlregal: Kamelmilch oder vergorene Stutenmilch? Besser keins von beiden! Ein Liter Benzin kostet 30 Cent, ein Grundstück am Stadtrand eine Million Dollar. Auf den Straßen gibt es Schlaglöcher, die tief genug sind, um darin nach einem der heftigen Regenfälle ein Bad zu nehmen. Im Stadtzentrum gibt es eine deutsch-kasachische Universität, in der junge Kasachen Verkehrsmanagement und Energieeffizienz studieren - streng nach deutschem Lehrplan. Drei Millionen Euro hat die deutsche Regierung in den vergangenen Jahren in das Vorzeigeprojekt gesteckt. Auf dem nahen Hausberg der Stadt grüßen John Lennon und George Harisson - Ein Denkmal für die Beatles. Und wenn sich der Smogschleier für einen Moment lüftet, kann man sogar die schneebedeckten schroffen Gebirgszüge sehen, die Almaty von fast allen Seiten umgeben.

Alma Ata - so der frühere sowjetische Name heißt übersetzt "Apfel" und "Großvater". Vor vielen Jahren sollen in der Steppe unzählige Apfelbäume gestanden haben. Die gibt es kaum noch. Dafür eine brodelnde Stadt auf der Schwelle. Wohin? Keine Ahnung!

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Donnerstag, 8. April 2010

Olé, Ola - Für immer Spartak Moskwa

Hansa krebst rum, Bayern ist schon wieder Spitzenreiter, Hertha BSC kämpft gegen den Abstieg. Ob der russische Fußball vielleicht mehr Abwechslung zu bieten hat? Für einen Crashkurs ist ein zünftiges Stadtderby besonders geeignet. Also: Spartak Moskau gegen Lokomotive Moskau am letzten Sonntag im März. Spartak gewinnt 2:1. Da passt es gut, wenn man im Spartak-Fanblock steht.

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Fußball macht blind und stumm. Beweis gefällig? Es läuft die elfte Spielminute. Vor ein paar Sekunden hat Marek Suchy, tschechischer Neuzugang von Spartak, geistesgegenwärtig den Ball über die Linie gestolpert – und schon liegt das Luschniki-Stadion unter einer Qualmwolke. So dicht wie schottischer Hochlandnebel und so beißend, dass die Stimmbänder kratzen. Es drängt sich die Frage auf: Wie haben die nur all die bengalischen Feuer durch drei Leibesvisitationen geschmuggelt? Mit dem Fußballgucken ist es für die nächsten Minuten vorbei. Zwischen „denen da unten“ und „uns hier oben“ liegt weißes Niemandsland.

Rein subjektiv betrachtet gab es nie einen besseren Zeitpunkt, um sich von der Bundesliga ab- und der russischen Premier-Liga zuzuwenden. Der heimische Lieblingsverein Hansa Rostock befreit sich gerade mit Ach und Krach aus der Abstiegszone – der Zweiten Liga wohlgemerkt. Und beim kicker-Managerspiel, dem Onlinespaß für alle Möchtegern-Jogi-Löws, zeigte die Tabelle beim letzten Besuch einen Platz nahe der 20 000 an. Im Übrigen auch wegen eines russischen Spielers namens Pawel Pogrebnjak, der regelmäßig Minuspunkte einheimst. Und wenn schon Fußball in Moskau, dann richtig. Spartak gegen Lokomotive. Alle russischen Bekannten halten das für eine schlechte Idee. Die Reaktionen gleichen sich: „Bist du verrückt? Das ist total gefährlich!“

Die Wirklichkeit ist dann doch ein bisschen anders. Der Stadionbesuch gleicht eher einem Sonntagnachmittag-Spaziergang. Nur eben in Begleitung einer Horde Männer, die so aussehen, als trügen sie die ganze Last des Erdballes auf ihren Schultern. Die schönste Nebensache der Welt – in Russland ist das eine bierernste Angelegenheit. Kein Platz für alberne Hüte und Vereinsfarben auf den Wangen. Das ist etwas für die Spinner von Manchester bis München. Der gemeine russische Fan trägt dunkelgrau bis schwarz, allenfalls noch einen Schal, besser nur einen unscheinbaren Button am Jackenkragen. Das, was sich noch am ehesten nach Gefahr anfühlt, ist der Weg zum Spiel. In der Metro presst sich Spartak-Fan an Spartak-Fan. „Willkommen in der Hölle“, keucht der Nebenmann.

Ein Fußballspiel dauert 90 Minuten, wusste schon Sepp Herberger. Und diese 90 Minuten sind zum Singen da. Das Schöne daran: Was da von den Moskauer Tribünen erschallt, kann auch bewältigen, wer im Russischen noch nicht mehr als den Grundwortschatz beherrscht. Die gesammelten Variationen von „Olé“, „Ola“ und „Heho“ reichen locker, um ausgiebig mitzugrölen, als Spartaks Brasilianer Ari das entscheidende 2:0 schießt. Und überhaupt: Nur Schwächlinge setzen sich hin.

Spartak gegen Lokomotive – das ist in der jungen russischen Saison noch kein Spitzenspiel. Lokomotive liegt auf Platz acht. Spartak als Vorjahreszweiter rangiert sogar einen Platz dahinter. Der Serienmeister des postsowjetischen Russlands hechelt seit neun Jahren den alten Erfolgen hinterher. Das Bemühen ist ebenso wenig von Erfolg gekrönt wie die Absicht, in ein eigenes Stadion umzuziehen. Der Bau liegt wieder einmal auf Eis. Und so tritt Spartak weiterhin im Luschniki-Stadion an, wo man selbst bei Heimspielen nur Gast ist. An die 80 000 Zuschauer passen da rein. Beim Derby ist es kaum zur Hälfte gefüllt. Nur zweimal pro Jahr, bei den Spielen gegen den Erzrivalen ZSKA ist ausverkauft - manchmal. Die restlichen 14 Begegnungen – zuschauermäßig ein Trauerspiel.

Da ich ja spätestens seit der EM 2008 als Kennerin des russischen Fußballs bekannt bin, hier noch meine Einschätzung zum Spiel: Es war sehenswert - schnell, direkt, fair. All das, was den russischen Fußball so bewundernswert machte, bevor die gescheiterte Qualifikation zur Weltmeisterschaft in Südafrika das Land ins Jammertal stürzte. Spartak war an diesem Tag nicht einen Deut besser, aber da ich im Stadion war, hats trotzdem gereicht. Damit steht die Beziehung Spartak - Diana unter einem besseren Stern, als die Beziehung Diana-Hansa Rostock jemals stand. Die haben ja bei meinem ersten Besuch haushoch verloren. Wegen eines gewissen Olaf Bodden.

Sonntag, 4. April 2010

Ostergottesdienst in Moskau

Es war nach Mitternacht, nur ein ganz klein bisschen kalt, ziemlich laut und hatte Potential für Gänsehaut vom kleinen Finger bis zum Haaransatz im Nacken.

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Montag, 29. März 2010

Terror in der Metro - "Mama, mir geht´s gut!"

IMG_3233Die Fahrt in den Moskauer Untergrund ist lang. Fast zwei Minuten auf der Rolltreppe. Das ist viel Zeit, um die Gesichter der Entgegenkommenden zu studieren. Viel zu viel Zeit, um Antworten zu suchen, die zu immer neuen Fragen führen. Vor knapp einer Stunde ist hier, an der Moskauer Metro-Station Park Kulturi - nur ein Brückenschlag vom Gorki-Park entfernt – die zweite Bombe hochgegangen. Mindestens zwölf Menschen sind tot, getroffen von metallenen Bolzen und Schraubenmuttern. Die Zungen der wenigen Mitreisenden lösen sich wie von selbst. „Das ist wie ein Gesetz“, sagt die Nebenfrau. „Es passiert immer etwas Schlimmes, wenn es in Russland zu lange ruhig war.“ Ministerpräsident Wladimir Putin erklärt wenig später via Nachrichtenagenturen dem Terrorismus den Krieg. Die Schuldigen würden „gefangen und vernichtet.“ Da ist das Aufflackern der Panik in Russlands Hauptstadt schon längst vorbei. Gewichen einem lähmenden Entsetzen und Schicksalsergebenheit.

Die Millionenmetropole Moskau ist immer laut. Am Tag des Terrors, des Schocks, ist sie ohrenbetäubend. Sie kreischt auf, wie ein Lebewesen, das an seiner empfindlichsten Stelle getroffen wurde. Sirenen heulen, Generatoren brummen, schnarrende Lautsprecherdurchsagen verkünden neue Umleitungen, die Miliz verschafft sich mit schrillendem Pfeifen Gehör. Die Stimme der russischen Nachrichtensprecherin überschlägt sich beinahe, als sie versucht, über den Lärm hinweg die Menschen an den Fernsehern auf den neuesten Stand zu bringen. Die Moskauer sollen zu Hause bleiben, rät die Regierung, allenfalls solle man zur Blutspende gehen. Überall gilt die höchste Sicherheitsstufe. Polizisten regeln mit scharz-weißen Stöcken den Verkehr, die Flughäfen stehen unter Beobachtung, ein Teil der getroffenen Metrolinie ist gesperrt. Ziel des Anschlags waren die Stationen Lubjanka und Park Kulturi auf der roten Linie des ausgeklügelten Moskauer Metronetzes. Es ist die Hauptschlagader des Berufsverkehrs. Fixpunkt für die sechseinhalb Millionen Pendler, die täglich mit der Metro zur Arbeit fahren. Die Liste der Opfer, die das russische Katastrophenschutzministerium kurz nach Mittag auf seiner Homepage veröffentlicht, spricht Bände. Konstantin Trunin, Julia Afanasewa, Wladimir Senkowitsch und wie sie alle heißen – es sind meistens Männer und Frauen um die 40, die die Selbstmordattentäterinnen mit in den Tod gerissen haben.

Augenzeugenberichte: Die Nachrichten, das Internet, das Fernsehen, ganz Moskau ist voll davon. Sie erzählen von den letzten Sekunden, bevor die Selbstmordattentäterinnen – es sollen Frauen mit schwarzem
Haar gewesen sein, wahrscheinlich aus dem Kaukasus – die Bomben zündeten. „Irgendjemand schrie `raus` und dann knallte es schon“, berichtet ein junger Mann für die Internetzeitung „gazeta.ru“. Beide Male zündeten die Bomben mit einer Sprengkraft von mehreren Kilogramm TNT in dem Moment, als sich die Metrotüren an den Stationen zum Ein- und Ausstieg öffneten. Was danach folgte, können die, die dabei waren, nur in Bruchstücken wiedergeben: „Qualm, keine Sicht, Schreie, blutüberströmte Gesichter“. Die Verstörung verbreitet sich wie ein Virus über die Stadt, kriecht über die zehnspurigen Straßen, schleicht zwischen die glänzenden Fassaden des neuen Wolkenkratzer-Viertels „Moscow City“ bis in die Wohnzimmer. „Ich bin zu Hause, vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln“, schreibt eine Angestellte in ihr Büro.

„Das haben sie selbst gemacht“, sagt Taxifahrer Ali. Mit „sie selbst“ meint er die Russen. Gerade lenkt er seinen Lada Kalina vorbei am abgesperrten Roten Platz. Menschenleer liegt er da, an den Metallgittern drängen sich die Touristentrauben mit gezückter Kamera – so gute Aussicht auf die Basiliuskathedrale hat man selten. Ali dreht einen Knopf am Armaturenbrett, das Autoradio springt von Nachrichten auf Russenpop, wie ihn schon Dima Bilan beim Eurovision Song Contest sang. „Wer wird’s schon gewesen sein?“, fragt Ali sich selbst in die abgasgetränkte Luft in seinem Auto. „Die Tschetschenen, die Dagestaner, irgendwelche Verrückten aus den russischen Republiken.“ Ali versucht erst gar nicht, den Schockierten zu spielen. Es hatte so kommen müssen. Seit vielen Monaten schon wechseln sich Nachrichten über Terrorakte im Kaukasus mit den Beteuerungen der russischen Regierung ab, man werde alles in den Griff bekommen. Keine Woche, in der nicht ein dagestanischer Polizist, ein Lokalpolitiker bei einer wüsten Schießerei auf den Straßen von Machatschkala ums Leben kommt. Nun hat der Terror Moskau und seine unterirdischen Paläste – die Metro-Stationen – erreicht. „Selbst schuld“, denkt sich Ali, geboren im Baku, Aserbaidschan, und sagt es dann auch laut. „Die Regierung muss endlich etwas gegen das Chaos im Süden unternehmen.“ Im Autoradio kommen jetzt doch schon wieder Nachrichten. Inmitten des Chaos haben die Moskauer Taxifahrer reagiert. Eine Fahrt kostet jetzt mal eben das Zehnfache – 3000 Rubel – ungefähr 75 Euro. Ali hat sich mit seinem Fahrgast für die Bummeltour durch den Stau auf 200 Rubel geeinigt – und verzieht nicht eine Miene.

Am heutigen Tag (Dienstag) soll ganz Russland den Opfern des Terroranschlages gedenken. So hat es die oberste Regierungsspitze beschlossen. Sie spricht von Vergeltungsmaßnahmen. Präsident Dmitrij Medwedew will die Sicherheit in der Metro erhöhen, sein Geheimnis bleibt, wie er Millionen Reisende bändigen will. Er verspricht Kompensationszahlungen für die Verletzten und die Hinterbliebenen der Getöteten. Gleich darauf tauchen die ersten Berichte auf, dass die Regierung auch schon 2004, nach den letzten Anschlägen auf die Metro, Geld versprochen, aber nicht gezahlt habe. Am Nachmittag hat sich die Nachrichtenlage in Moskau in einen Wirbel verwandelt, immer um sich selbst drehend und unkontrollierbar. Ruhe findet man gerade im Zentrum des Geschehens.

Vor der Metrostation Park Kultury steht Natascha, eine zierliche junge Frau mit schwarzem Pferdeschwanz. Der Raum um sie herum wirkt wie das ruhige Auge eines Orkans. „Sie werde nie wieder Metrofahren“, sagt sie so leise, das man sie kaum versteht. Ihr Bruder hat sich schon nach dem letzten Anschlag vor sechs Jahren ein eigenes Auto zugelegt. „Lieber stundenlang im Stau stehen, als dieser Terror“, sagt Natascha. Dann klingelt ihr Telefon. Natascha wendet sich ab: „Ja Mama, mir geht es gut!“

Montag, 22. März 2010

Im Fort Knox

Das Studentenwohnheim ist für gewöhnlich ein Hort des Laissez-faire und der Inspiration – und sei es auch nur für Spiele mit Namen wie „Bierpong“ oder „Weihnachtsmannsackhüpfstaffelmarathon“. Die russischen Exemplare der Wohnheime sind da irgendwie anders. Geheimnisumwittert, mystisch gar. Schon allein der Wunsch, ein Moskauer Studentenwohnheim als Nicht-Insasse – und hier ist die Anlehnung an das Gefängnis-Vokabular durchaus nicht zufällig gewählt – zu betreten gleicht den Versuch, Fort Knox zu stürmen. Nach wochenlangen Diskussionen ist klar: Am besten, der Gast gibt sich als Cousine oder eine Person noch näheren Verwandtschaftsgrades aus, fälscht sicherheitshalber ein bis zwei Ausweise und stellt den Antrag auf Besuch ein Vierteljahr im Voraus.

Gelangt man dann endlich in die heiligen Hallen, ist man überrascht, was sich hinter den bröckelnden Mauern versteckt. Nämlich ziemlich wenig. Wie soll denn auch? Eine Etagenfrau passt auf, dass jeder Krümel jeder Salzstange, die verputzt wird, nur nicht zu lange den Linoleum-Fußboden beschmutzt. Kreatives Chaos ade. Für sinnloses Dahinträumen bleibt keine Zeit. Die Gedanken sind von der Idee gefesselt, einen Algorhytmus zu entwickeln, der es möglich macht, zu berechnen, wann wer und wie lange das Bad benutzen darf. Die Wände sind so dünn, dass Ohrenstöpsel ungefähr den gleichen Stellenwert haben, wie ein daumengroßer gelber Nugget zu Zeiten des großen Goldrausches. Das Schnarchen der ein bis drei Mitbewohner hat man ja sowieso inklusive. Und es wäre nicht Russland, wenn es nicht für alles eine Regel, manchmal nur ein Regelchen gäbe. Von zwölf bis sechs ist der Ausgang untersagt. Und wer sein Zimmer ausstatten möchte, schaut am besten erstmal auf den Einrichtungsplan. Die Hausverwaltung erlaubt im Zweibettzimmer einen Computer, einen Wasserkocher und einen Kühlschrank. Einen Fernseher – das ist nun besonders perfide – darf sich erst teilen, wer ins Dreibettzimmer verfrachtet wurde.

Aber es wäre auch nicht Russland, wenn die Studenten nicht alles tun würden, um jede Regel zu umgehen. Neulich, so erzählen sie, gab es eine Party auf Zimmer 636, mit allen möglichen eingeschleusten Leuten, vermeintlichen Cousinen und Inhabern gefälschter Pässe. Es wurde geraucht – das ist verboten. Und es gab Alkohol – auch das ist natürlich untersagt. Dann stand plötzlich der Wachmann in der Tür. Wie nach bester Guerilla-Taktik sind sie da in alle Richtungen davon gelaufen. Zwei haben sich im Schrank versteckt und schlichen später hinter dem Rücken des Ordnungshüters aus dem Zimmer. Sie schmunzeln, kichern, werfen sich verschwörerische Blicke zu, wenn sie davon erzählen. Wer braucht schon „Bierpong“, wenn er einen ganzen Actionfilm haben kann.

Dienstag, 9. März 2010

Ein Prosit!

05Vodkaschwein Trinkfreudig sollen sie sein, die Russen. Wohl wahr, das sind sie. Trinkfest auch. Keine Einwände. Doch wehe dem, der unvorbereitet zum Gelage erscheint. Mindestens einen Satz sollte man in petto haben, der an Originalität, Witz und Charme ohne Probleme auch von Sir Peter Ustinov oder Erich Kästner stammen könnte. Schuld ist die russische Eigenart, jeden Schluck mit einem Trinkspruch zu veredeln. Beispiel: Eine fröhlich-steife Firmenfeier. Kaum ist der Schaum auf dem ersten Glas Bier zusammengeschmolzen, entpuppt sich der Kollege als Dichterfürst und die Kollegin als Schülerin Immanuel Kants. Alles natürlich ganz ohne jegliche Vorbereitung. Komisch nur, dass manch einer als Erinnerungsstütze ein Zettelchen aus der Hosentasche kramt. Da wird auf den bestirnten Himmel über uns und den tückischen Schlamm unter unseren Füßen getrunken. Auf Freunde, die heute nicht dabei sind, auf Freunde, die etwas später kommen und Freunde, die schon längst gegangen sind. Alles hübsch garniert mit großen Worten und kleinen Bonmots. Da wird aus dem Trinkspruch ruckzuck eine Trinkanekdote, eine Trinkerzählung. Altmeister Loriot könnte es nicht besser machen. Eine ganz schöne Herausforderung für jemanden, der bis vor kurzem noch dachte, an russischen Tresen werde zwar besonders häufig, dafür aber ziemlich monoton „Na zdorowje“ gerufen, dann aber erfahren musste, dass der Wunsch nach Gesundheit aber nun wirklich der Gipfel der Einfallslosigkeit ist. Ist man dann selbst an der Reihe mit dem Sprüchlein – aufgefordert wie einst in der Schule – kommen ungeübte Gemüter schnell ins Haspeln und flüchten sich in Allgemeinplätze. Das klingt dann keineswegs nach Ustinov, sondern eher nach einem bundesdeutschen Ministerialangestellten. Wie schön für die Russen. Die verbergen hinter ihrem nachsichtigen Lächeln die Erkenntnis, dass die Deutschen wohl ein ganz anständiges Bier zu brauen verstehen, von Trinkkultur aber keinen blassen Schimmer haben. Da gibt es wohl zwei Gegenmaßnahmen. Vor dem nächsten Fest einen ausführlichen Blick in das Online-Zitatelexikon werfen. Oder aber ein paar Stunden Geduld haben. Vielleicht steigt ja die Seelenverwandtschaft zu großen Dichtern proportional zum Alkoholgehalt im Blut. Je später der Abend, desto gewisser wird es: Für diese These spricht einiges.

East Side Gallery

„Jeder russische Mensch fühlt, wenn er auf Moskau blickt, dass es seine Mutter ist“, sagte der Schriftsteller Lew Tolstoi. Er hat nicht verraten, was die Stadt für Besucher aus der Fremde bereit hält. Ich bin gespannt...

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Als meine Besucher am...
Als meine Besucher am 1.1.2012 in Port Said ins Meer...
erik-n - 26. Feb, 12:13
Auch wenn die Frage jetzt...
Auch wenn die Frage jetzt vielleicht etwas spät kommt,...
Menschchen - 21. Jun, 13:26
Крута!
...und ich dachte, ich wär mutig am 28. April in den...
Хайди (Gast) - 12. Mai, 12:33
Danke
Die königlichen Würden werden mir völlig zu Recht verliehen....
Mischkala - 15. Mär, 08:52
Whoa...
... Respekt. Das wollte ich auch immer mal machen,...
KrishA (Gast) - 13. Mär, 18:19
Kalt, Kälter, Eisbaden
Ok, das Foto ist etwas verschwommen, aber als Beweisfoto...
Mischkala - 22. Feb, 16:23
Alles besenrein
Als ich das erste Mal das Wort „Broomball“ hörte,...
Mischkala - 18. Feb, 13:54
Go for Präsidentenberater
Also wenn ich diesen flammenden Appell lese, kommt...
Mischkala - 16. Feb, 16:20

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