Nach der Schlacht
Man stelle sich folgendes vor. Eine der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte. Harry (der bärtige Billy Crystal) und Sally (die süße Meg Ryan) sitzen in einem Restaurant in der New Yorker Lower East Side. Sally ist gerade mittendrin, soll heißen, sie spielt dem ungläubigen Harry einen Orgasmus vor, wirft den Kopf zurück, rüttelt an der Tischkante, stöhnt was das Zeug hält. Da kommt der Kellner und räumt das dreckige Geschirr ab. „Cut“, möchte man da als Regisseur brüllen und flucht über die verdorbene Szene. Zum Glück tauchte in der wirklichen Filmszene nie ein übereifriger Kellner auf. Und warum nicht? Weil der Film nicht in Russland gedreht wurde.
Nur hier hat das Restaurantpersonal die eigenartige Angewohnheit, Besteck und Geschirr des Gastes so schnell wie möglich verschwinden zu lassen. Man hat den letzten Bissen noch auf der Gabel, da wird einem schon der Teller unter dem unachtsamen Auge weggezogen. Eben war da noch dieses wunderbare Stillleben, das entsteht, wenn die Schlacht am Buffet vorbei ist, alle sich zufrieden seufzend die Bäuche halten – und im nächsten Moment ist nichts mehr da. Das mag ja gut gemeint sein, gemütlich ist aber was anderes.
Was kann man nicht alles mit liegen gebliebenen Messern, Tassen und Gläsern anstellen? Sie müssen ja nicht gleich als Requisiten beim vorgetäuschten sexuellen Höhepunkt herhalten. Man kann stattdessen im Minutenabstand die letzten Krümel des soeben verspeisten Mahles vom Teller aufklauben und damit den Genuss hinauszögern. Man kann bei einem furchtbaren Date verlegen an der Serviette rumzupfen, beim Geschäftsessen krampfhaft die Gabel umklammern oder mit einem bewusst unbewussten Schlenker des wirbelnden Messer seinem Argument Nachdruck verleihen. Gut, Freiherr von Knigge würde sich bei derlei Ansinnen samt einer Gesamtausgabe seiner Benimmregeln im Grabe umdrehen, aber wie will man sonst seinem Gegenüber klarmachen, dass man durchaus zur Körperverletzung bereit ist, wenn er nicht sofort zugibt, das Orange die Farbe der Saison ist. Und überhaupt: Wie soll man denn der Freundin die Abseitsregel erklären, wenn außer dem Zahnstocherhalter nichts mehr auf dem Tisch steht? Kein Glas, das „jetzt mal der Torwart“ ist, keine Salatschüssel, die als Stürmer taugt. So vieles spricht für ein bisschen mehr Unordnung am Restauranttisch. Die Vereinigung der russischen Restaurantbediensteten möge dies hier lesen – und den Film „Harry und Sally“ schauen.
Nur hier hat das Restaurantpersonal die eigenartige Angewohnheit, Besteck und Geschirr des Gastes so schnell wie möglich verschwinden zu lassen. Man hat den letzten Bissen noch auf der Gabel, da wird einem schon der Teller unter dem unachtsamen Auge weggezogen. Eben war da noch dieses wunderbare Stillleben, das entsteht, wenn die Schlacht am Buffet vorbei ist, alle sich zufrieden seufzend die Bäuche halten – und im nächsten Moment ist nichts mehr da. Das mag ja gut gemeint sein, gemütlich ist aber was anderes.
Was kann man nicht alles mit liegen gebliebenen Messern, Tassen und Gläsern anstellen? Sie müssen ja nicht gleich als Requisiten beim vorgetäuschten sexuellen Höhepunkt herhalten. Man kann stattdessen im Minutenabstand die letzten Krümel des soeben verspeisten Mahles vom Teller aufklauben und damit den Genuss hinauszögern. Man kann bei einem furchtbaren Date verlegen an der Serviette rumzupfen, beim Geschäftsessen krampfhaft die Gabel umklammern oder mit einem bewusst unbewussten Schlenker des wirbelnden Messer seinem Argument Nachdruck verleihen. Gut, Freiherr von Knigge würde sich bei derlei Ansinnen samt einer Gesamtausgabe seiner Benimmregeln im Grabe umdrehen, aber wie will man sonst seinem Gegenüber klarmachen, dass man durchaus zur Körperverletzung bereit ist, wenn er nicht sofort zugibt, das Orange die Farbe der Saison ist. Und überhaupt: Wie soll man denn der Freundin die Abseitsregel erklären, wenn außer dem Zahnstocherhalter nichts mehr auf dem Tisch steht? Kein Glas, das „jetzt mal der Torwart“ ist, keine Salatschüssel, die als Stürmer taugt. So vieles spricht für ein bisschen mehr Unordnung am Restauranttisch. Die Vereinigung der russischen Restaurantbediensteten möge dies hier lesen – und den Film „Harry und Sally“ schauen.
Mischkala - 19. Mai, 11:20
















Die Fahrt in den Moskauer Untergrund ist lang. Fast zwei Minuten auf der Rolltreppe. Das ist viel Zeit, um die Gesichter der Entgegenkommenden zu studieren. Viel zu viel Zeit, um Antworten zu suchen, die zu immer neuen Fragen führen. Vor knapp einer Stunde ist hier, an der Moskauer Metro-Station Park Kulturi - nur ein Brückenschlag vom Gorki-Park entfernt – die zweite Bombe hochgegangen. Mindestens zwölf Menschen sind tot, getroffen von metallenen Bolzen und Schraubenmuttern. Die Zungen der wenigen Mitreisenden lösen sich wie von selbst. „Das ist wie ein Gesetz“, sagt die Nebenfrau. „Es passiert immer etwas Schlimmes, wenn es in Russland zu lange ruhig war.“ Ministerpräsident Wladimir Putin erklärt wenig später via Nachrichtenagenturen dem Terrorismus den Krieg. Die Schuldigen würden „gefangen und vernichtet.“ Da ist das Aufflackern der Panik in Russlands Hauptstadt schon längst vorbei. Gewichen einem lähmenden Entsetzen und Schicksalsergebenheit.
Trinkfreudig sollen sie sein, die Russen. Wohl wahr, das sind sie. Trinkfest auch. Keine Einwände. Doch wehe dem, der unvorbereitet zum Gelage erscheint. Mindestens einen Satz sollte man in petto haben, der an Originalität, Witz und Charme ohne Probleme auch von Sir Peter Ustinov oder Erich Kästner stammen könnte. Schuld ist die russische Eigenart, jeden Schluck mit einem Trinkspruch zu veredeln. Beispiel: Eine fröhlich-steife Firmenfeier. Kaum ist der Schaum auf dem ersten Glas Bier zusammengeschmolzen, entpuppt sich der Kollege als Dichterfürst und die Kollegin als Schülerin Immanuel Kants. Alles natürlich ganz ohne jegliche Vorbereitung. Komisch nur, dass manch einer als Erinnerungsstütze ein Zettelchen aus der Hosentasche kramt. Da wird auf den bestirnten Himmel über uns und den tückischen Schlamm unter unseren Füßen getrunken. Auf Freunde, die heute nicht dabei sind, auf Freunde, die etwas später kommen und Freunde, die schon längst gegangen sind. Alles hübsch garniert mit großen Worten und kleinen Bonmots. Da wird aus dem Trinkspruch ruckzuck eine Trinkanekdote, eine Trinkerzählung. Altmeister Loriot könnte es nicht besser machen. Eine ganz schöne Herausforderung für jemanden, der bis vor kurzem noch dachte, an russischen Tresen werde zwar besonders häufig, dafür aber ziemlich monoton „Na zdorowje“ gerufen, dann aber erfahren musste, dass der Wunsch nach Gesundheit aber nun wirklich der Gipfel der Einfallslosigkeit ist. Ist man dann selbst an der Reihe mit dem Sprüchlein – aufgefordert wie einst in der Schule – kommen ungeübte Gemüter schnell ins Haspeln und flüchten sich in Allgemeinplätze. Das klingt dann keineswegs nach Ustinov, sondern eher nach einem bundesdeutschen Ministerialangestellten. Wie schön für die Russen. Die verbergen hinter ihrem nachsichtigen Lächeln die Erkenntnis, dass die Deutschen wohl ein ganz anständiges Bier zu brauen verstehen, von Trinkkultur aber keinen blassen Schimmer haben. Da gibt es wohl zwei Gegenmaßnahmen. Vor dem nächsten Fest einen ausführlichen Blick in das Online-Zitatelexikon werfen. Oder aber ein paar Stunden Geduld haben. Vielleicht steigt ja die Seelenverwandtschaft zu großen Dichtern proportional zum Alkoholgehalt im Blut. Je später der Abend, desto gewisser wird es: Für diese These spricht einiges.