Zwischen Pest und Cholera
Ich habe noch nie eine Atemmaske getragen. Fand ich immer albern. Auch als die Moskauer sich im Winter wegen der Schweinegrippe massenweise Mund und Nase verhüllten. Jetzt bin ich meinen eigenen Prinzipien untreu geworden. Dabei hilft das weiße Tüchlein vor meinem Gesicht nach Aussagen aller Experten herzlich wenig gegen Kohlenstoffmonoxid, -dioxid und was gerade sonst noch die Moskauer Luft verpestet. Aber ich bilde mir ein, dass die Atemluft dann etwas weniger in der Kehle brennt, dass sie viel weniger nach Metall schmeckt. Selbst die Augen brennen weniger.
Es ist schwer zu sagen, was schlimmer ist. Der Rauch, die Hitze, die Nachrichten. Überfüllte Leichenhäuser, bedrohte Atomanlagen. Vor ein paar Tagen schrieb der Arzt der deutschen Botschaft noch, es sei alles halb so schlimm, jetzt arbeitet die deutsche Vertretung in Russlands Hauptstadt nur noch mit einem Notteam. Das einzige klimatisierte Büro im Gebäude, der Raum des Botschafters, wurde zur „Lounge“ für die letzten Mohikaner erklärt, alle anderen Mitarbeiter sind heute ausgeflogen. Und selbst? Wieder eine Nacht in der Hitzehölle der eigenen vier Wände. Es ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Fenster auf – dann zieht der Qualm durch die Räume, es riecht, als stehe man ständig im Qualm eines riesigen Lagerfeuers. Bei geschlossenen Fenstern steigen die Temperaturen ins Unerträgliche. Inzwischen sind alle Laken und Tücher der Wohnung im Einsatz. Die feuchten Laken hängen vor den spaltbreit geöffneten Fenstern und sollen den Rauch aufhalten. Die Tücher liegen im Tiefkühlfach und werden herausgeholt, um während der schlaflosen Nacht Abkühlung zu schaffen. Gestern Abend verkündete eine Moskauer Zeitung, sie stelle ihre klimatisierten Redaktionsräume ab sofort als Schlafplatz zur Verfügung. Wer Isomatte und Schlafsack hat, könne vorbeikommen. Für ein paar Minuten klang das Angebot wirklich verlockend.
Bilder wie aus Moskau kannte ich bisher nur aus Katastrophenfilmen. In den schlimmsten Momenten schien der Rauch alles Leben aus der Stadt gesaugt zu haben. Häuser, Brückenpfeiler, Autos – alles verschwand im grauen Nichts. Die Sonne war nur noch eine rotschimmernde Kugel hoch am Himmel. Die paar Menschen, die sich auf die Straße trauten, hasteten mit gesenkten Kopf vorbei, feuchte Tücher vor Mund und Nase gepresst. Die Millionenmetropole leert sich zunehmend. Wer nicht sowieso schon im Urlaub war, holt das jetzt schnell nach. „Auf nach Piter“, heißt es allerorten. In der alten Zarenresidenz St. Petersburg ist die Luft noch gut, das Meer ist nah, dort lässt es sich leben.
Es gibt aber auch die grotesken Momente. Menschen, die im dichten Nebel gehüllt seelenruhig auf der Parkbank sitzen, ihr Mittagsbrot und eine Zigarette genießen. Die verzweifelte Suche nach den letzten erschwinglichen Ventilatoren, die Geschäftemacherei mit den Schutzmasken. Eine stylische Maske im Tigerlook kostet auf der Straße 190 Rubel, umgerechnet fast fünf Euro. Die Bemühungen der russischen Regierung, den Eindruck zu vermitteln, sie habe alles im Griff, wären fast schon als rührend zu bezeichnen, wenn sie nicht so lächerlich wären. Da steht das Kamerateam des ersten russischen Fernsehens in einem vollkommen abgebrannten Dorf und zeigt, wie die Bewohner, die gerade alles verloren haben, aus einer Kladde schon ihr nächstes Haus aussuchen. Auf den Trümmern werden weiße kugelrunde Kameras installiert. Damit, so heißt es, werde Putin höchstpersönlich die Baufortschritte überwachen.
Gehen oder bleiben? Das ist die Frage. Heute Morgen konnte ich zum ersten Mal seit Tagen aus meinem Fenster wieder einen Blick auf eines der berühmten Stalingebäude im Zuckerbäckerstil erhaschen. Der Rauch hat sich etwas verzogen. Andererseits nähert sich die Feuerwalze der atomaren Wiederaufbereitungsanlage Majak. Ab wann ist Panik angebracht? Ich verlasse mich auf meine russischen Kollegen. Die sind durch die vergangenen russischen Jahrzehnte wesentlich katastrophenerprobter als ich. Solange sie mich morgens noch mit einem Lächeln begrüßen, bleibe ich.
Foto: Susanne Wunderlich
Es ist schwer zu sagen, was schlimmer ist. Der Rauch, die Hitze, die Nachrichten. Überfüllte Leichenhäuser, bedrohte Atomanlagen. Vor ein paar Tagen schrieb der Arzt der deutschen Botschaft noch, es sei alles halb so schlimm, jetzt arbeitet die deutsche Vertretung in Russlands Hauptstadt nur noch mit einem Notteam. Das einzige klimatisierte Büro im Gebäude, der Raum des Botschafters, wurde zur „Lounge“ für die letzten Mohikaner erklärt, alle anderen Mitarbeiter sind heute ausgeflogen. Und selbst? Wieder eine Nacht in der Hitzehölle der eigenen vier Wände. Es ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Fenster auf – dann zieht der Qualm durch die Räume, es riecht, als stehe man ständig im Qualm eines riesigen Lagerfeuers. Bei geschlossenen Fenstern steigen die Temperaturen ins Unerträgliche. Inzwischen sind alle Laken und Tücher der Wohnung im Einsatz. Die feuchten Laken hängen vor den spaltbreit geöffneten Fenstern und sollen den Rauch aufhalten. Die Tücher liegen im Tiefkühlfach und werden herausgeholt, um während der schlaflosen Nacht Abkühlung zu schaffen. Gestern Abend verkündete eine Moskauer Zeitung, sie stelle ihre klimatisierten Redaktionsräume ab sofort als Schlafplatz zur Verfügung. Wer Isomatte und Schlafsack hat, könne vorbeikommen. Für ein paar Minuten klang das Angebot wirklich verlockend.
Bilder wie aus Moskau kannte ich bisher nur aus Katastrophenfilmen. In den schlimmsten Momenten schien der Rauch alles Leben aus der Stadt gesaugt zu haben. Häuser, Brückenpfeiler, Autos – alles verschwand im grauen Nichts. Die Sonne war nur noch eine rotschimmernde Kugel hoch am Himmel. Die paar Menschen, die sich auf die Straße trauten, hasteten mit gesenkten Kopf vorbei, feuchte Tücher vor Mund und Nase gepresst. Die Millionenmetropole leert sich zunehmend. Wer nicht sowieso schon im Urlaub war, holt das jetzt schnell nach. „Auf nach Piter“, heißt es allerorten. In der alten Zarenresidenz St. Petersburg ist die Luft noch gut, das Meer ist nah, dort lässt es sich leben.
Es gibt aber auch die grotesken Momente. Menschen, die im dichten Nebel gehüllt seelenruhig auf der Parkbank sitzen, ihr Mittagsbrot und eine Zigarette genießen. Die verzweifelte Suche nach den letzten erschwinglichen Ventilatoren, die Geschäftemacherei mit den Schutzmasken. Eine stylische Maske im Tigerlook kostet auf der Straße 190 Rubel, umgerechnet fast fünf Euro. Die Bemühungen der russischen Regierung, den Eindruck zu vermitteln, sie habe alles im Griff, wären fast schon als rührend zu bezeichnen, wenn sie nicht so lächerlich wären. Da steht das Kamerateam des ersten russischen Fernsehens in einem vollkommen abgebrannten Dorf und zeigt, wie die Bewohner, die gerade alles verloren haben, aus einer Kladde schon ihr nächstes Haus aussuchen. Auf den Trümmern werden weiße kugelrunde Kameras installiert. Damit, so heißt es, werde Putin höchstpersönlich die Baufortschritte überwachen.
Gehen oder bleiben? Das ist die Frage. Heute Morgen konnte ich zum ersten Mal seit Tagen aus meinem Fenster wieder einen Blick auf eines der berühmten Stalingebäude im Zuckerbäckerstil erhaschen. Der Rauch hat sich etwas verzogen. Andererseits nähert sich die Feuerwalze der atomaren Wiederaufbereitungsanlage Majak. Ab wann ist Panik angebracht? Ich verlasse mich auf meine russischen Kollegen. Die sind durch die vergangenen russischen Jahrzehnte wesentlich katastrophenerprobter als ich. Solange sie mich morgens noch mit einem Lächeln begrüßen, bleibe ich.
Foto: Susanne Wunderlich
Mischkala - 10. Aug, 09:36
Spätestens jetzt...
Wie gut, das wir uns den wunderbaren Juni für einen Besuch bei dir ausgesucht haben. Ich schwärme jedem mittlerweile von dem Regen vor, den wir die ersten Tage in Moskau hatten.