Sie hat die besten Jahre schon hinter sich, aber sie hat noch viel vor. Das Fernsehen hat sie neulich bei einer illegalen Demonstration gefilmt. Das sei ein Problem sagt sie und sieht dabei kein bisschen verunsichert aus, höchstes stolz. Auf dem Triumfalnaja Ploschtschad, gleich vor dem doppelt mit Eisenzäunen gesicherten Denkmal des Dichters Wladimir Majakowskij, steht eine Frau, weiße Strickmütze auf dem grauen spröden Haar und binnen zwei Minuten sagt sie fünf Mal den gleichen Satz: „Putin muss weg.“
Sie sagt noch mehr. Dass die Russen viel zu lange geschlafen haben, dass es Zeit ist, aufzustehen. Dass Milow, Nemzow und die Mitstreiter von Solidarnost es allemal besser machen würden als die jetzige korrupte Führungscrew. 9000 Rubel Rente bekommt sie im Monat, abzüglich der Miete und aller Fixkosten bleiben 30 Euro zum Leben. Auch deshalb kommt sie immer wieder zur Demonstration. Die Strategie stimmt. „Jetzt haben sie uns 800 Teilnehmer erlaubt, beim nächsten Mal werden sie uns noch mehr genehmigen. Wir werden immer mehr.“ Noch verlaufen sich die wenigen Menschen auf dem Platz, aus den Lautsprechern klingt Musik, die viel Ähnlichkeit mit französischen Chansons hat. An diesem Ort wird an diesem Tag ein kleines Stück Geschichte der russichen Bürgerrechtsbewegung geschrieben.
Erstmals hatte die Moskauer Stadtverwaltung Ende Oktober eine Demonstration der so genannten „Strategie 31“ zugelassen. Jenem Bündnis von Oppositionellen, das seit fast eineinhalb Jahren jeweils am 31. eines Monats für Versammlungsfreiheit demonstriert. Genau die gewährt eigentlich der Artikel 31 der russischen Verfassung. Das ändert nichts daran, dass die Moskauer Stadtverwaltung alle bisherigen Anträge der „Strategie 31“ auf Demonstartionen ablehnte. Die Unverwüstlichen, die trotzdem kamen, landeten regelmäßig auf den Moskauer Polizeiwachen. Die Erlaubnis für den 31. Oktober war eine der ersten Amtshandlungen des neuen Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin.
Wann immer an diesem Tag einer der Protagonisten der Bewegung auftaucht, bilden sich dichte Menschentrauben. Männer mit schwarzen Schiebermützen und Kinnbärten schlendern über den Platz, schütteln Hände, sammeln mit ihren Witzen Lacher und Kopfnicken. Ihnen haftet die lässige Attitüde von Menschen an, die fest davon überzeugt sind, auf der richtigen Seite zu stehen, es besser zu wissen. Die Grand Dame der „Strategie 31“, Ljudmila Alexejewa, bewegt sich trotz Krückstock erstaunlich schnell. Um den Hals trägt die 83-Jährige ein Plakat, fast so groß wie sie selbst. Sie verteilt an die Umstehenden weiß-blau-rote Buttons mit einer großen „31“ darauf. In der ersten Reihe stehen auffällig viele Demonstranten, die altersmäßig fast mit Alexejewa mithalten können. Als sie endlich auf der Ladefläche steht und zum Mikrofon greift, fehlen ihr für einige Sekunden die Worte. Ihre Stimme wirkt zerbrechlich, erst als sie zum ersten Mal den Sprechchor „Dies ist unsere Stadt“ anstimmt, wird sie kräftiger.
Von da an wechseln die Redner im Takt weniger Minuten. Auf Alexejewa folgt Boris Nemzow, in dunkelblauer Strickjacke und Jeans sieht er fast aus wie ein Schuljunge, der übt, Präsident zu sein. Sergej Udalzow, Anführer der „Linken Front“, würde dagegen auch gut als Bösewicht im Fersehkrimi durchgehen. Die Hand zur Faust geballt brüllt er in das Mikrofon. Die Sprechchöre versiegen schon nach wenigen Sekunden, ab und an brandet höflicher Applaus wie in einem Konzertsaal auf, einzelen „Hurra“-Rufe sind zu hören. Alle Redner feiern den Abend als Sieg der Bürgerrechte, danken den Demonstranten für ihre Ausdauer. Nur von einem Sprechen sie nicht: Von Eduard Limonow, geistiger Vater der „Strategie 31“. Er geht an diesem Abend auf seine eigene Demonstration. Eine illegale.
Es ist der Wermutstropfen für alle, die auf eine erstarkende russische Opposition setzen. Just im Moment ihres größten Erfolges haben sich die Organisatoren zerstritten. Die Genehmigung der Stadt war nämlich mit Auflagen versehen. Nicht mehr als 800 Menschen sollten auf dem Triumphplatz für ihr Recht demonstrieren dürfen. Die Veranstalter hatten 1500 Teilnehmer angemeldet. Ljudmila Alexejewa akzeptierte schließlich die Bedingungen, weil sie sich nach eigener Aussage über jede „Errungenschaft“ freut. Limonow hingegen beschimpfte seine einstige Weggefährtin als „unehrlich“, bestand auf seine eigene, nicht genehmigte Demo. Wer unter den 800 zugelassenen Demonstranten nach Limonow fragt, erntet viele wegwerfende Handbewegungen. Ein Blender sei er, nur auf den Posten des Präsidenten aus, heißt es. Wer sehen möchte, was Eduard Limonow und seine Anhänger bewegen, muss sich bis an den Rand des Platzes durchkämpfen. Dort, wo Blitzlichter den inzwischen dunklen Himmel erhellen und Milizbrigaden Menschenmauern bauen.
Eduard Limonow ist natürlich gekommen. Mit Megafon und Leibgarde. Und weil er auf den Treppenstufen des Tschaikowskij-Konzertsaales quasi illegal demonstriert, herrscht um ihn herum das blanke Chaos. Frauen kreischen, Menschen stolpern, die Menge wogt, ab und zu flammt kurze Panik auf. „Es war eine Manifestierung der Polizeigewalt und eine Manifestierung der Bürgerrechte“, schreibt Limonow noch am selben Abend in seinen Blog. Nach einem handesten Gerangel bekommt die Miliz Limonow schließlich doch zu fassen und schleppt ihn davon. Wohin? Auf die Hauptdemonstration auf dem Triumphplatz. Der Gründer der Demonstration wird von den Staatsorganen zur Demonstration gezwungen. Limonow ergreift umgehend die Flucht.
Mischkala - 2. Nov, 12:28